Das Wesen von Bildung

Dr. Thomas Plankensteiner
HR Dr. Thomas Plankensteiner, ehemaliger LSI AHS

 

Die Grundfrage jeder Bildungsdiskussion müsste lauten: Was ist eigentlich das Wesen, das Ziel von Bildung? Nur vom Ziel her lässt sich nämlich der (richtige) Weg erkennen und gestalten. Dabei hat das Ziel von Bildung etwas zu tun mit dem Ziel von Leben und Welt insgesamt. Daher gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Bildung und Weltanschauung und damit letzten Endes auch zwischen Bildung und Politik im Sinne von Gestaltung der Gesellschaft.

 

Was also ist es, das die Welt (der Bildung) im Innersten zusammenhält? Es ist wohl nicht falsch, das Ziel von Leben und Bildung in einem sinnerfüllten, gelingenden Leben für den Einzelnen und in einem gelingenden, solidarischen Zusammenleben in Gemeinschaft und Gesellschaft zu sehen. Aus einem solchen Ziel müssen dann aber konkrete Konsequenzen für die Gestaltung von Bildung und Schule abgeleitet und Engführungen bewusst vermieden werden.

 

So besteht eine Konsequenz etwa darin, die Erfüllung im Leben nicht allein durch den Beruf zu erwarten, sondern vor allem auch durch ein erfülltes privates, persönliches Leben in Partnerschaft, Familie und Freizeit nach dem biblischen Motto: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“ Für die Bildung bedeutet dies konsequenterweise, in ihr mehr als eine reine (berufliche oder berufsvorbereitende) Ausbildung zu sehen. Vielmehr muss es ganz besonders auch um Persönlichkeitsbildung und Entfaltung aller Anlagen und Begabungen, etwa auch im musisch-kreativen oder sportlichen Bereich, gehen. Auch die Reduktion auf eine rein kognitive Bildung wäre eine Engführung, denn auch das Handwerklich-Praktische ist ein wichtiger Teil menschlicher Entfaltung. Fatal ist auch die heute weit verbreitete Überbetonung der sogenannten „Kernfächer“ und des rein Messbaren und Zählbaren, wie wir es bei diversen Testungen (Bildungsstandards, PISA, Reifeprüfung) erleben. Der Philosoph Martin Seel hat recht, wenn er sagt: „Die messbare Seite der Welt ist nicht die Welt. Es ist die messbare Seite der Welt.“ Oder Albert Einstein: „Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden; und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt.“ Wenn man bedenkt, wieviel Zeit und Energie von Seiten des Bildungsministeriums allein in die Erstellung und Auswertung von Statistiken investiert wird, kann man darin durchaus den Ausdruck einer gefährlichen Reduktion von Bildung und Schulqualität sehen. Im Grunde genommen stellt diese Tendenz sogar einen Rückschritt in der Auffassung von Bildung dar, hat man sich doch in den vergangenen Jahrzehnten bewusst um eine Erweiterung des Bildungsbegriffes in Richtung persönlicher, sozialer und kreativer Kompetenzen bemüht. Erich Kästner hat einmal geschrieben: „Nur Ochsen büffeln, der Mensch aber soll lernen, und deshalb ist der Kopf nicht der einzige Körperteil. Man muss nämlich auch springen, turnen, tanzen und singen können, sonst ist man, mit seinem Wasserkopf voller Wissen, ein Krüppel und nicht mehr.“

 

Angesagt ist also eine ganzheitliche, humanistische Bildung ohne einseitige Reduktionen und Engführungen. Für die AHS leitet sich daraus ein ganz besonderer Auftrag ab, nämlich als solide Basis eine fundierte Allgemeinbildung zu vermitteln. Dadurch sollen junge Menschen einen Einblick in die verschiedenen Weltzugänge erhalten und gegen Verführbarkeit jeglicher Art immunisiert werden. Dabei stellt dieses Grundwissen nicht nur ein beliebig austauschbares Material für formale „Kompetenzen“ dar, sondern ist Teil der Wahrheitsfindung. Denn: „In veritate libertas“ („In der Wahrheit liegt die Freiheit“). Letztlich muss sich das in Schulen vermittelte Grundwissen also am aktuellen Stand der Wissenschaften orientieren, was nur möglich ist, wenn Lehrpersonen auch eine fundierte fachliche Ausbildung und eine entsprechende Fortbildung erhalten. Für die Lehrer/innen-Rolle bedeutet das, dass diese sich keineswegs in der Aufgabe des Coachings und Lernbegleitens erschöpft, sondern die über die Jahrhunderte konstante Grundstruktur von Schule und Unterricht immer noch gültig ist: Mehrwissende (Lehrpersonen) bringen weniger Wissenden (Schülerinnen und Schülern) etwas bei. Und das trotz aller Änderungen und Fortschritte in Didaktik, Methodik, Pädagogik und Technik. Das gilt auch für die derzeit so aktuelle Digitalisierung: Auch sie schafft per se – gleichsam „automatisch“ – nicht ein Mehr an Bildung, sondern ist zunächst nur eine, wenn  auch in ihrer Dimension und ihren Auswirkungen radikal neue Methode der Vermittlung.

Die wichtigste Vermittlerin von Bildung ist und bleibt die Sprache. Bei aller Bedeutsamkeit des eigenen Erlebens und Erfahrens junger Menschen und des Wertes der Anschauung könnte rein quantitativ nur ein geringer Bruchteil des erforderlichen Grundwissens erworben werden ohne die Vermittlungsarbeit der Sprache, sei es mündlich oder schriftlich.

 

Selbstverständlich gehören zu einer umfassenden Bildung auch die Vermittlung und der Erwerb formaler Kompetenzen, sogenannter „soft skills“ wie Teamfähigkeit, soziale Kompetenz, Kritikfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit oder vernetztes Denken. Aber letztlich können auch solche Kompetenzen nur anhand von Inhalten, also von „Stoff“, erworben werden, so wie Kochen nicht ohne Zutaten oder Stricken nicht ohne Wolle möglich ist.

 

Aus einer ganzheitlichen Bildung darf auch die Beschäftigung mit der Sinnfrage nicht ausgeklammert werden. Die Auseinandersetzung mit Sinnangeboten verschiedener Art und das Angebot einer grundlegenden Sinnorientierung – sei es im Rahmen des Religions-, Ethik- oder Philosophieunterrichts – tragen wesentlich zur Persönlichkeitsbildung junger Menschen bei. Den konfessionellen Privatschulen kommt dabei naturgemäß eine ganz besondere Rolle zu. Es gilt also, auch in der Schulbildung „den Himmel offen zu halten“, und zwar in beide Richtungen: durch die (religiöse) Sinnfrage einerseits und die Beschäftigung mit Kunst andererseits. Denn diese ermöglicht eine Ahnung von einem Lebenssinn jenseits alles Materiellen, ist gleichsam „der Einbruch der Ewigkeit in die Zeit, des Himmels in die Welt“. Oder mit den Worten von Nikolaus Harnoncourt: „Die Kunst ist eben keine hübsche Zuwaage – sie ist die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet, sie garantiert unser Mensch-Sein.“

 

Zusammengefasst sind also das Ziel von Bildung und Schule wissende und könnende, freiheitsliebende, kreative, kritische Menschen, befähigt zu einem sinnerfüllten Leben und zu einer aktiven, positiven Mitgestaltung von Welt und Gesellschaft sowie immun gegen jede Art von Instrumentalisierung.

 

Da aber jeder Mensch einzigartig, einmalig und unverwechselbar ist und es daher eine Vielfalt an Begabungen, Interessen und Neigungen sowie eine Vielfalt an gesellschaftlichen Aufgaben und Herausforderungen gibt, braucht es auch notwendigerweise eine entsprechende Vielfalt an Schul- und Bildungsangeboten und keinen Eintopf. Es ist auch eine Fehlentwicklung, das Bildungsheil ausschließlich in einer kognitiven Bildung mit Matura- und Studienabschluss zu suchen. Es ist nicht nur der Sorge der Wirtschaft um eine ausreichende Zahl an Facharbeitern geschuldet, auch in der Lehre einen wichtigen, gleichwertigen Bildungsweg zu sehen; dies sollte auch ein bildungspolitisches Bekenntnis sein und im Bewusstsein der Gesellschaft, insbesondere der Eltern, mehr Wertschätzung erfahren. Allein die Sprache ist verräterisch, wenn in diversen Statistiken die (ab)wertenden Begriffe „Bildungsaufstieg“ (= Matura und Studium) und „Bildungsabstieg“ (= Lehre) verwendet werden. Sprache schafft Bewusstsein.

Bildungsgerechtigkeit besteht auch nicht – wie häufig missverstanden – darin, jedem das Gleiche zu verordnen, sondern jedem das Seine anzubieten, wobei eine hohe Durchlässigkeit der verschiedenen Bildungswege zur Ermöglichung leichter Übergänge zu gewährleisten ist.

 

In den vergangenen Jahren war das Schulwesen in Österreich mit vielen Reformen in kurzer Zeit konfrontiert, eine regelrechte „Reformitis“ erzeugte viel Unruhe und Hektik. Von Stillstand, wie in der medialen Öffentlichkeit oft behauptet, kann überhaupt keine Rede sein. Im Gegenteil. Dabei gilt es zu bedenken, dass nicht alles Neue auch tatsächlich einen Fortschritt darstellt. Das hat schon Lessing nach dem Besuch einer Theaterpremiere erkannt: „Das Stück enthält viel Gutes und Neues. Aber das Gute ist nicht neu und das Neue nicht gut.“ Vielmehr gilt es, Bewährtes zu bewahren, wobei auch Überkommenes selbstverständlich auf dem Prüfstand steht: „Prüfet alles, das Gute behaltet“, weiß schon die Bibel. Vieles spricht für eine moderate, behutsame Weiterentwicklung, denn wer immer in Bewegung ist, ist nie mit beiden Beinen auf dem Boden. Es braucht auch Zeiten des bewussten Innehaltens und Nachdenkens. Das gilt auch für den Bereich der Schule und der Schulbehörden. Von diesen – ob Bundesministerium oder Bildungsdirektion – darf ein hohes Maß an Begleitung, Unterstützung und Sicherheit für die Schulen, ihre Leiter/innen und Lehrpersonen erwartet werden, letztlich im Interesse der ihnen anvertrauten Schüler/innen und deren Eltern. Voraussetzung dafür sind Personen mit hoher Professionalität und Kompetenz in den Schulbehörden, die in den Schulen auch entsprechende Akzeptanz genießen. Diesen kommt auch die Aufgabe der Koordination, Vernetzung und des Austausches zwischen den Schulen zu, und zwar nicht nur regional, wie derzeit forciert, sondern besonders auch überregional, um vergleichbare Standards sicherzustellen.

 

Im Mittelpunkt jeder Bildungspolitik müsste das Ringen um eine Bildungsidee und Bildungsphilosophie stehen, die reflektierte und fundierte Suche nach Bildungszielen, aus denen dann in weiterer Folge die dazu passenden Inhalte und Methoden abgeleitet werden. Davon ist derzeit weit und breit nichts zu sehen. Im Gegenteil: Pädagogische Fragen und Lösungsansätze laufen Gefahr, strukturell durch Verwaltung, Organisation, Administration und Juristerei überdeckt zu werden. Dabei hätten diese Bereiche die wichtige Funktion, das pädagogisch Sinnvolle zu ermöglichen und zu unterstützen sowie für alle Beteiligten verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Zugespitzt hat es Charles de Gaulle seinerzeit so formuliert: „Die 10 Gebote sind deswegen so kurz und logisch, weil sie ohne Mitwirkung von Juristen zustande gekommen sind.“

 

Sehr ratsam ist auch bei allen wichtigen Entscheidungen und Weichenstellungen die Einbindung der Betroffenen auf Augenhöhe im Sinne gelebter Partizipation, sei es die Vertretung von Direktorinnen und Direktoren, Lehrpersonen, Eltern oder Schülerinnen und Schülern. Ein in guten Zeiten geknüpftes Netz der Kommunikation und Zusammenarbeit hilft in schwierigeren, krisenhaften Zeiten, diese gemeinsam zu bewältigen.

 

Die derzeit viel beschworene Autonomie der Schulen heißt es ernst zu nehmen und auszuhalten, sonst verkommt dieses Schlagwort zu einem reinen Alibi mit Placebo-Effekt. Es macht hellhörig, wenn im Ministerium sehr häufig vom „Steuern“ die Rede ist.

 

Jede Behörde braucht für eine positive Weiterentwicklung auch dringend den „kritischen Freund“, der in prinzipieller Loyalität auf Fehlentwicklungen aufmerksam macht. Wer sich nur mit Ja-Sagern, Schulterklopfern und Abnickern umgibt, verzichtet auf dieses notwendige Korrektiv. So könnte ein sinnvolles Motto jedes Mitarbeiters/jeder Mitarbeiterin lauten: „Ihr könnt auf mich zählen, aber ihr müsst mit mir rechnen.“

 

An den Schluss sei ein Gedicht von Hermann Hesse gestellt, von dem man nicht nur die eine berühmte Zeile kennen sollte:

 

 

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!